2.

Sam Shields nahm seinen Pullover aus der Reisetasche und warf ihn auf das Bett. Nach dem Flug von L.A. nach New York hätte er eigentlich müde sein müssen. Doch er barst vor Energie. Außerdem war die Privatmaschine der Metro Goldwyn Mayer ein schickes Transportmittel. Nur Ersteklassesitze, nur Ersteklassepassagiere. Das MGM-Studio hatte Sam in einem Rolls Royce zum Flughafen bringen lassen. Gipfel des Luxus.

Geld, eigenes oder das anderer, hatte immer mehr oder weniger außerhalb Sams Reichweite gelegen. Er war an der North Shore von Long Island aufgewachsen, in einem winzigen, gemieteten Haus, das so feucht war, daß die Tapeten sich von den Wänden lösten. Es reichte nie für ordentliche Kleidung oder ein vernünftiges Stück Fleisch, aber immer für ausreichend Gin, dem seine Eltern zusprachen. Sam hatte früh gelernt, wie man ohne Schätze auskommt. Seinem Vater, einem erfolglosen Werbefachmann, hatte die erstklassige Schulbildung nicht geholfen — nur die Mutter, eine schlanke, gut aussehende Frau, hatte ihn wohl für eine ausgezeichnete Partie gehalten und ihn einen Monat nach dem ersten Kennenlernen geheiratet.

Die Verzauberung bröckelte rasch ab. Als Werbetexter zu arbeiten, hielt Philip für unter seiner Würde. Doch was konnte er schon, das nicht unter seiner Würde gewesen wäre? Er sprach davon, ein Buch zu schreiben, setzte den Vorsatz jedoch nicht in die Tat um. Seine Frau verzieh ihm das nie. So verging die Zeit. Der reichliche Schnapskonsum bewirkte, daß Philip nicht einmal mehr als Texter Arbeit fand. Sams Mutter, mit einem Herz aus Stein, begriff, daß sie sich von Sams Bildung und seinen hochfliegenden Plänen hatte blenden lassen. Sie hatte auf das falsche Pferd gesetzt.

Sam glättete sein zerknittertes schwarzes Leinenjackett. Er trug fast ausschließlich Schwarz. Das leichte Jackett taugte nicht für ein winterliches New York. In L.A. war es gerade richtig gewesen. Dort hatte einfach alles geklappt. Zwischen ihm und April hatte es gestimmt, die Textänderungen waren akzeptiert worden. Alles deutete darauf hin, daß man im Mai mit der Produktion beginnen konnte.

Zu einem Stück wie Jack and Jill gehörte Mut. Sam hatte eine Verfilmung eher als Schwarzweißstreifen vor Augen gehabt. Auch jetzt konnte er sich noch nicht ganz von der Vorstellung trennen. Dabei fehlte es in dem Drama weder an Humor noch an Spritzigkeit. Doch das änderte nichts an der düsteren Wahrheit dahinter.

Ein Stück Leben. Sams Leben. Ein junger Mann aus Long Island geht in die Großstadt, hungert, lebt fürs Theater, schreibt gute Stücke, die niemand will, gibt fast auf, schreibt dann doch noch ein Stück und erreicht damit den Durchbruch.

Sam verlor die Lust am Auspacken und kippte den Haufen schmutziger Wäsche einfach in eine Ecke. Normalerweise hätte er Mary Jane die Wäsche gebracht. Doch unter den Umständen ging das nicht.

In den letzten zwei Jahren hatten sie vorwiegend zusammen in Mary Janes Wohnung gelebt, obwohl Sam seine kleine Dachwohnung in der östlichen 19. Straße beibehalten hatte. Er brauchte einen Ort, an den er sich zurückziehen konnte. Das machte er auch Mary Jane deutlich. So hatten sie ihre Grenzen abgesteckt. Sie waren ein Paar, doch Sam ließ keinen Zweifel daran, daß er seine Freiheit behalten wollte.

In einer Ecke seiner Wohnung stand ein Anrufbeantworter. Sam drückte auf die Taste. Er ließ das Band zurücklaufen und hörte Mary Janes Stimme: »Bist du noch nicht zurück? Hoffentlich hattest du einen guten Flug. Ich muß jetzt zum Arbeitsamt. Bei diesem Wetter! Ruf mich an, wenn du da bist. Ich gehe um halb zwölf.« Sam sah auf die Uhr. Mary Jane war also schon unterwegs. Es war Viertel vor eins. Das paßte ihm ganz gut. Obwohl ihre Stimme munter geklungen hatte, fühlte Sam sich nicht wohl in seiner Haut.

Alles andere als wohl. Mary Jane war gewiß keine kapriziöse Frau. Von denen hatte Sam genügend ausprobiert, neurotische, depressive, narzisstische Schauspielerinnen, die ihm die Hölle heiß gemacht hatten. Mit dreiundzwanzig hatte er Shayna geheiratet und sie vier Jahre lang ertragen. Danach hatte er seine Freiheit genossen, bis er Nora fand, die kaum besser war als Shayna. Nora folgten zahlreiche grazile, vollkommene Frauen, Körper wie Tänzerinnen, prächtige Brüste, hübsche Lippen, zärtliche Blicke aus betörenden Augen, die viel versprachen und nichts hielten. Alle hatten ihn entweder gelangweilt oder verrückt gemacht.

Mit sechsunddreißig mußte Sam sich praktisch eingestehen, daß er ein Versager war, verzweifelt und bedrängt von Zukunftsangst. Angst vor einer neuen Beziehung, die bald wieder in die Brüche gehen würde, Angst vor einem vermeintlichen Durchbruch, der dann doch zum Flop werden könnte, Angst davor, daß er nach dem nächsten erfolglosen Stück ausgebrannt sein würde und ihm neue Ideen fehlten. Da lernte er Mary Jane kennen, begabt, ja, sogar mehr als das. Sie übernahm die Rolle der Jill und erfüllte sie mit Leben. Solange Mary Jane auf der Bühne stand, konnte Sam die Augen nicht von ihr lassen. Die Arbeit mit ihr machte Spaß. Mary Jane ließ kein Nuance aus. Sie kannte ihr Metier. Auf unnachahmliche Weise verstand sie es, Emotionen aufzubauen. Sie brachte den Gag genau zum richtigen Zeitpunkt. Und das Abend für Abend. Sie spielte immer so, als wäre es das erste Mal. So wirkte es frisch und neu.

Wenn Mary Jane nicht auf der Bühne stand, konnte man keinen Staat mit ihr machen. Sam hatte sie seinen kritischen Eltern nie vorgestellt. Er konnte sich mühelos vorstellen, was seine Mutter nach dem ersten Blick zu Mary Jane sagen würde. Angesichts der Vorurteile seiner Eltern, die ihn schon als Kind gelehrt hatten, daß man auf Juden, Italiener und Iren herabzusehen hatte, von Schwarzen ganz zu schweigen, sprach schon Mary Janes Herkunft gegen sie. Halb Irin, halb Jüdin. Sam stellte sich die geringschätzige Miene seiner Mutter vor, das erzwungene Lächeln, das die Augen nie erreichte. Nein, Mary Jane würde vor seinen Eltern keine Gnade finden.

Doch in Mary Jane hatte Sam einen Menschen gefunden, mit dem er reden konnte. Sie hatte nichts gemein mit den egoistischen Schönen, mit denen er sich sonst zeigte. Mary Jane hörte zu, sie ging auf seine Probleme ein, war warmherzig und liebevoll und beeindruckte ihn durch ihre absolute Ehrlichkeit. Sam stöhnte. Ja, Mary Jane war grundehrlich, und er wertete Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe hoch, obgleich er sich in letzter Zeit weder um das eine noch das andere bemühte. Vor drei Jahren verkörperte Mary Jane die Antwort auf Sams Probleme. Das durfte er nicht vergessen, auch wenn es nur mit banalem Sex begonnen hatte. Mary Jane war leidenschaftlich und wußte, was ihm gefiel. Sie half ihm auf die Beine durch ihr Wesen und ihr schauspielerisches Talent. Zudem rührte es ihn tief, wie sehr sie ihn liebte.

Mary Jane verlangte nichts, gab jedoch alles. Dieses Ungleichgewicht störte ihn zwar, doch er hinterfragte es nicht. Einige Ausrutscher hatte er sich dennoch geleistet, indem er mit dem einen oder anderen Mädchen geschlafen hatte. Er hatte es gut gefunden, mitunter sogar sagenhaft gut. Doch er kehrte stets zu Mary Jane zurück. Dabei hatte er ihr nie etwas versprochen. Nichts. Doch sie schlich sich in sein Herz. Er gewöhnte sich an, bei ihr zu wohnen, weil sie es gemütlich hatte, weil sie stets ein Essen für ihn bereithielt, weil sie seine Wäsche wusch und bügelte. Bei ihr konnte er wieder zu sich selbst finden und seine Wunden lecken. Ihr Übergewicht hatte etwas Mütterliches. Zudem glaubte sie an ihn, wie das seine dürre, schöne, hartherzige Mutter nie fertiggebracht hatte. Mary Janes Glauben und ihre künstlerische Begabung hielten Sam über Wasser. Sie arbeiteten den Tag über intensiv an den Proben für Jack and Jill, Abends trösteten sie sich gegenseitig. Wahrscheinlich war Mary Jane die einzige und erste Frau, die Sam je wirklich geliebt hatte. Obwohl er von der Ehe eigentlich nichts mehr wissen wollte, geriet er oft in Versuchung, Mary Jane zu heiraten.

Mary Jane brachte ihm Glück. Als das Stück einschlug, erhielt sie überschwängliche Kritiken. Sie zog die Massen an. Es wurde nötig, in ein größeres Theater umzuziehen. Auszeichnungen regneten auf sie herab. Beste Schauspielerin, bestes Stück, bester Regisseur.

Statt sich vor seinem vierzigsten Lebensjahr die Pulsadern aufzuschneiden, schmiedete Sam neue Pläne. Er flog an die Westküste und machte einen Film.

Doch Hollywood dachte gar nicht daran, sechzehn Millionen Dollar in einen Film zu investieren, dessen Hauptrolle mit einer unbekannten, unattraktiven Schauspielerin besetzt wurde, obwohl die Rolle gerade dieses Aussehen verlangte.

Crystal Plenum zeigte sich an der Rolle interessiert. Wenn sie sie spielte, brachte der Film Geld ein. Darum mußte Sam klein beigeben. Er konnte sein Versprechen Mary Jane gegenüber nicht halten. Und wen nervt es nicht, wenn ihm ständig ein treuer Hundeblick folgt, der ausdrückt: »Ist schon okay, du kannst ruhig nach mir treten, das bin ich gewöhnt.«

Sam ahnte, daß Mary Jane unheimlich sauer auf ihn war. Doch das sagte sie nicht. Es stellte die einzige Unehrlichkeit dar, bei der er sie je ertappt hatte. Sie fand sich mit der Tatsache ab. Ende. Ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter hatte ja auch ganz normal geklungen. Ein Segen, daß er ihr nie einen Heiratsantrag gemacht hatte.

Der Anrufbeantworter meldete sich wieder: »Hier spricht Sy Ortis von Early Artists, der Anruf betrifft Mr. Shields. Bitte rufen Sie mich in Los Angeles unter 555-0111 an.«

Sam staunte. Sy Ortis rief ihn persönlich an. Wenn das erst bekannt wurde! Sy Ortis galt als Topshot in L.A. Sam notierte die Nummer.

Die letzte Nachricht war von April Irons, Sams Agentin. Sie meldete sich nie mit Namen. Das hatte sie nicht nötig. »Hallo, mein Großer — ich meine dein Ding, wenn ich das sage. Hoffentlich hattest du einen guten Flug. Ruf mich an.«

Trotz April Irons, trotz all der anderen liebte Sam Mary Jane. Er hoffte sehr, daß sie ihn nach Los Angeles begleitete. Obwohl er sich ihrer schämte, brauchte er sie jetzt noch mehr als früher. Weil er seine Angst nicht loswurde.

Die schoenen Hyaenen
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